(Theodor Fontane)
Sobald sich mir nach einer langen Wiederkehr auf der Straße die Berge des Harzes und der Brocken erstreckt, weiß ich - ich bin Zuhause. Gleichzeitig plagen mich immer wieder Sehnsuchtsgefühle nach der Ferne. Ist die Heimat denn langweiliger als das exotische Unbekannte? Wo vor flüchten wir? Ich begab mich in meiner Studienzeit auf eine spannende Reise zu mir selbst, die mir diese Fragen nach langer Nichtbeachtung meiner Heimat beantwortete.
Angefangen in meiner Kindheit wuchs ich in einer sehr ruhigen und grünen Natur am Rande des Nordharzes auf. Vom Küchenfenster unseres Hauses aus gen Süden grenzen die Berge und damit die Wälder des Harzes an. Es ist ein Katzensprung hinaufzugehen und in der Natur zu sein. Gleichzeitig erstreckt sich der weite Blick in den Norden mit seinen flachen Wiesen und Feldern und reicht bei guter Sicht bis nach Magdeburg.
Doch früher als Kind und Jugendliche gab es nichts Öderes als im Wald zu spazieren, sich für die langweiligen, tristen Kurorte und Dörfer zu interessieren, geschweige denn "Rentnerausflüge" zu machen. Die weite Welt da draußen hatte viel mehr zu bieten! Trotz meiner inneren Vorsicht vor neuen Dingen, wagte ich den Schritt, für mehrere Monate hintereinander ins Ausland zu gehen. Plötzlich war es um mich geschehen!
Während meiner mehrmonatigen Auslandsreisen beschäftigte ich mich intensiv mit Land, Kultur und Leute. Je mehr ich in ihre Welt eintauchte, desto zugehöriger fühlte ich mich. Ich war Teil von ihnen und schon vorab stolz meine Erfahrungen Zuhause preisgeben zu können. Plötzlich entdeckte ich Couchpotato das Wandern für mich, lernte die Jahreszeiten zu lieben, probierte fremde Speisen und Getränke, übte mich in Fremdsprachen, beobachtete Naturphänomene und lernte viel über geschichtsträchtige Orte kennen. Meine Entdeckerlust war geweckt und die packte ich auf meinem Weg nach Hause mit in mein Reisegepäck.
Aber fernab der Heimat ist nicht immer alles Gold, was glänzt. Unverständliche Schriften, fremde Sprachen und Gesichter, ungewohnte Sitten und Traditionen - ich hatte Heimweh. Immer wieder kam phasenweise dieses schmerzhafte Gefühl in der Brust und Magengegend auf, was mich alarmierend sofort nach Hause schicken wollte. Doch die Möglichkeit bestand nicht und ich musste durchhalten. Die Situation auszuhalten war zum einen schwierig, zum anderen eine bereichernde Erfahrung, die mich im Rückblick stolz gemacht hat. Aber wonach sehnte ich mich denn? Nach dem geborgenen Gefühl, daheim bei der Familie zu sein? Nach der vertrauten Umgebung und dem gewohnten Blick auf die hügelige Harzlandschaft? Nach meiner Muttersprache und bekannten Gesichtern auf der Straße?
Wo früher angeblich noch alles so langweilig war, begriff ich nach jedem Wiedersehen und zeitweiligen Besuch in meiner Heimat allmählich, dass ich nichts wusste. Nichts über die Geschichte. Nichts über die Menschen und kulturhistorischen Stätte. Nichts über die waldreiche Wanderlandschaft. Ich hatte mich all die Jahre mit anderen Ländern befasst, aber nicht mit meiner eigenen Heimat. Fast beschämend war dieses Gefühl auf neugierige Touri-Fragen nicht antworten zu können und sich ahnungslos als stolze Harzerin präsentieren zu wollen.
Meine Neugierde, Entdecker- und Unternehmungslust in der Fremde versuchte ich in meiner Heimat zu nutzen und mich mehr und mehr mit ihr zu beschäftigen. Nach meiner Rückkehr aus dem Ausland lernte ich die Schönheit, die ich all die Jahre zuvor nicht begriff, endlich zu sehen. Meine Heimat hat so viel zu bieten und ich musste ihr von nun an dringend meine Zeit widmen. Jedes Mal, wenn ich in den Harz auf Familienbesuch reise, nehme ich mir dabei mindestens zwei oder drei Ausflüge vor, die teilweise direkt vor meiner Haustür beginnen. Spätestens seit Corona habe ich erfahren, was für ein großartiges Kultur- und Landschaftsgut unser Deutschland hat. Ausflüge im eigenen Land oder in der Heimat, ohne weit zu verreisen, waren für mich von nun an nicht mehr out!
Doch kaum Zuhause angekommen, plagte mich wieder das nächste Gefühl. Während der Lockdown-Zeiten war es wohl das Schlimmste für mich! Die Welt stand still, Grenzen machten dicht, Einreiseverbote wurden wie am Fließband von den Ländern verhängt und die Traumreiseblase war geplatzt. Die Illusion, bald wieder weit weg reisen zu können, war dahin! Um dem Stillstand entfliehen zu können, verkrümelte ich mich im heimischen Wohnzimmer in eine imaginäre Reisewelt. Dank unserer heutigen digitalen Medien war dies problemlos und zu jeder Tageszeit möglich. Ich flüchtete ins exotische Asien, auf kleine Robinson-Crusoe-Inseln und spannende Europa-Ausflüge. Dabei war mir der Fernseher eine große Hilfe, suchtete ich doch einen TV-Reisebericht nach dem nächsten. Für anderthalb Stunden fühlte ich mich jedes Mal inspirierter und begeisterter, doch sobald diese bildgewaltige Dokumentation vor meinem Auge endete, kam der harte Aufprall. Ich war immer noch hier und konnte nicht weg! Aber warum hatte ich es mit meiner Flucht in die Ferne so eilig? Im Nachhinein meine ich zu behaupten, dass Menschen sich immer dann nach der Ferne sehen, wenn ihr eigenes Alltagsleben zum Erliegen gekommen ist. Wenn die Welt sich nicht mehr weiterdreht. Wenn sie Unzufriedenheiten verspüren und ihr Leben aus dem Gleichgewicht gerät. All diese Dinge musste ich für mich lernen, um zu begreifen, warum mir die Ferne plötzlich wichtiger war, als die Nähe zur Heimat.
Heute reise ich guten Gewissens ins Ausland, da ich auch die kleinen Abenteuer vor der Haustür zu schätzen gelernt habe. Ich befasse mich sowohl gerne mit der Reiseplanung von fremden Ländern und verspüre eine riesige Vorfreude darauf, als auch mit meinen heimischen Gefilden. Es ist keine Schande den Urlaub an einem See in der näheren Umgebung statt der exotischen Fernreise in traumhafte Gegenden vorzuziehen. Ich glaube erst verstanden zu haben, was mir meine Heimat bedeutet, als ich das erste Mal auf große Reise ging. Fernab der Heimat ohne Eltern, völlig auf mich gestellt. Die Heimat – der Harz – ist für mich das Herz Deutschlands und damit auch mein Zuhause. Für mich war immer klar – egal, wo ich auch sein werde, egal wo ich mich niederlasse – ich werde immer wissen, wo ich herkomme und auch an diesen Ort zurückfinden. Denn der Harz ist meine Heimat.